Der Dresdner Gregor Kunz legt einen fantastischen Roman mit 123 kunstvollen Collagen vor.

Ein Seemann, Kapitän von dem Busche, durchmisst eine Welt kaleidoskopischer Erfindungen. Offenbar beginnt die Fahrt in den Vereinigten Staaten von Amerika um 1900, vorgestellt mit einem schönen Surrealistenwitz: „Nein, das ist keine Tür. Das ist Cleveland!“ Hier ist alles fremd und alles Fremde selbstverständlich. Das Unheimliche, das Abenteuerreisende gewöhnlich erst aufsuchen, ist in dieses Amerika bereits eingewandert, wie augenscheinlich ebenso in Paris und Rom, Kairo und Kanton.
Auf den Seereisen fängt man Hammerhaie, begegnet Maschinen, die sich wie Tiere benehmen, Türme, die man sichtet, wachsen wie Pilze oder Spargel, oder sie werden wie Eier auf Dächer gelegt. Brücken schweben schwerelos im Tragseilgespinst: „Ah, die Wunder der Wissenschaft, der Arbeit... Kretins!“ Schlachten zur See kann man gleichfalls nicht entgehen, Säbeln, gezückt im Keller, endlosen Reihen von Kanonen. Gleichzeitig segelt und dampft der Kapitänlängst in einem luziden Traum, der ihn aus dem Handeln nicht entlässt, aber Großes und Kleines, Nahes und Fernliegendes mühelos zusammenbringt. (…)
Diese fantastische Welt, dieses Guck-Abenteuer hat der Dichter und bildende Künstler Gregor Kunz in Holzstich-Collagen entworfen und von 2000 bis 2009 zu drei Romanen zusammengefasst. Der erste Band, „Look at the Seascape“, der hier vorliegt, ist bereits 2001 im Grundstock fertig. Ein Jahr später realisiert Kunz eine erste Fassung in sechs handgefertigten Exemplaren, die in der Dresdner „Edition Raute“ erscheinen, 2013 eine zweite für einen Comic-Wettbewerb. Die aktuelle Fassung stammt aus dem Jahr 2019. Sie enthält 123 Collagen, geordnet zu sieben Kapiteln, die „Wunder der Sehkraft, Wunder der Liebe“ heißen oder „Im Dienste des Zaren, der Wissenschaften, der Wahrheit und nicht nur einer guten Sache“.
Für die Faszination der Bilder sorgt zu Teilen schon das verwendete Material. Die Stiche aus Magazinen und Büchern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind auf Kunst und Unterhaltung getrimmt, auf Bildgewalt, Zauber, Rätsel, Wünsche, manchmal schon zuviel. Kunz lädt durch Schnitt und Kombination dazu ein, das Ganze noch einmal neu zu bedenken. Er versetzt Dinge in neue Zusammenhänge, lässt dem Betrachter Luft, die Geschichte weiterzuspinnen. Die freie Assoziation entspricht der Arbeitsweise des heute 60jährigen Dresdners. Kunz führt die Teile zusammen, ohne vorher zu wissen, wo er dabei rauskommt. Was den Bildern anzusehen ist, weil es mitschwingt: Er ist von diesem Prozess des Kombinirens und dessen kaum kalkulierbaren Ergebnis als erster überrascht, beschenkt, erfreut und begeistert. Am Ende der Arbeit bietet nahezu jede der 123 Collagen ein einzigartig komplexes Bild – organisch gewachsen, nicht blos als Fremde entdeckt. Mit einer besonderen Empfindung fürs Schweben, für Heißluftballons und Vögel, die fliegenden Fische nicht zu vergessen.
Und „Look at the Seascape“ funktioniert verblüffend gut als Retro-Comic, in seiner Entwicklung, den Konsequenzen – das Buch ist ein Roman wie jene von Jules Verne, doch man reist in jähen Sprüngen. Die Reihe der Collagen entspricht in der dritten Fassung längst nicht mehr dem Werklauf. Sondern sie richtet sich danach, wie die Bildtitel – die kommentierenden Zeilen – zueinander passen. Das erhöht das Vergnügen nochmals. Denn so scheinen die Bilder Szenen und Figuren fortzuführen, die sie gar nicht darstellen müssen. Die helden bleiben namenlos, die Orte meist auch, die Konflikte sind historisch brisant. Der Text unterm Bild zeigt sich widerspenstig, setzt Traum und Rätsel Haltung entgegen, erst recht den Zumutungen der Realitäten. Mit Humor hält er die Spannung zwischen der Gegenwart und dem 19. Jahrhundert. Man kann ihn, wenn man will, fortlaufend als ein Gedicht von Gregor Kunz lesen: „In den Trümmern der Religion / Nie waren die Vögel lauter als in diesem Aquarium / Als hätte vdas Zeitalter gerade begonnen in einfachen Sätzen vernünftig zu sprechen / Was hast du gesehen, als du sahst, dass es gut war?“ Dieses Buch ist gelungen.

Uwe Salzbrenner, Sächsische Zeitung, 16.6.20




Von der Rätselhaftigkeit des Daseins. Gregor Kunz veröffentlicht mit „Look at the Seascape“ den ersten von drei Collage-Romanen.

Mit seinem neuen Buch ist Gregor Kunz ein wahrer Geniestreich gelungen.
In „Look at the Seascape“ vereinigt der Dresdner Künstler und Schriftsteller 123 Collagen, die in traumartigen Motiven die Geschichte des fiktiven Charakters Kapitän von dem Busche erzählen. Die Vorlagen der geklebten Bilder stammen ausschließlich von Holzstichen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Kunz hat sie in akribischer Sammelleidenschaft alten Büchern und Zeitschriften entnommen, die er über Jahre hinweg auf Flohmärkten und in Antiquariaten suchte.
Der erste von drei Collage-Romanen ist nun bei Moloko Print erschienen.
Das fertige Gesamtwerk umfasst insgesamt 500 Blätter, an denen Kunz von 2000 bis 2009 gearbeitet hat. Dass das erste Buch erst jetzt erschienen ist, liegt daran, dass der Autor nur schwer einen Verlag finden konnte, der das Risiko eingegangen ist, dieses Nischenprodukt auf den Markt zu bringen.
Denn das Buch ist definitiv nichts für Jedermann. „Look at the Seascape“ ist keine Graphic-Novel und hat daher auch keine konkrete Handlung. Vielmehr haben die Bildtafeln emblematischen Charakter. Unter jeder Collage steht ein Sinnspruch, der mitunter selbst Zitat sein kann. (…)
Kunz führt mit der Gattung des Collage-Romans eine Tradition fort, die vor allem von Max Ernst begründet wurde. Dieser hat seine erste Collagensammlung 1929 unter dem Titel „La femme 100 têtes“ veröffentlicht. Allerdings wirkten die Motive durch ihren starken Einfluss des Dadaismus zum Teil albern und schelmenhaft. Gregor Kunz jedoch gelingt es, ein Werk zu schaffen, das ganz andere Assoziationen und Gefühle freisetzt. Seine Kompositionen sind düsterer und geradezu epischer Natur, wirken aber ebenso rätselhaft und vielsagend wie die von Ernst.
Die mehrmalige Verwendung gleicher Bildausschnitten erzeugt dabei eine faszinierende Dynamik. Der Leser fühlt sich dazu verleitet, Zusammenhänge herzustellen, die nur wenig greifbar sind. Damit entsteht eine Handlung, die allein im Unterbewusstsein des Lesenden stattfindet. „Look at the Seascape“ ist bildgewordene Lyrik, eine Meditation über die Rätselhaftigkeit des menschlichen Daseins.
Gregor Kunz schafft eine geradezu kafkaeske Stimmung, die vielschichtige Interpretationen zulässt. Allein der Zusatz des Buchtitels „Kapitän von dem Busche und sein abenteuerliches Leben, erzählt von ihm selbst“ sowie vereinzelte Erwähnungen des Namens erwecken den Eindruck, man habe das Psychogramm eines stilisierten Abenteurers vor sich, der sich durch die Jahrhunderte bewegt. Kunz verrät im persönlichen Gespräch, er wolle einen Bogen von den 1890er bis in die 1990er Jahre schlagen. Die Busche-Trilogie setze sich mit gesellschaftlichen Wirrnissen auseinander, die Folge von politischen, technischen und sozialen Umbrüchen sind. Diesen Verwirrungen werden Elemente des Mythos entgegengesetzt, der nach Hans Blumenberg von jeher dazu gedacht war, Gefühle der Unsicherheit und Fremdheit zu nehmen. Der Mythos gebe Orientierung im Chaos des Weltganzen. Daher ist dem Buch auch ein Zitat des Philosophen vorangestellt: „Alles Weltvertrauen fängt an mit Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen.“
Kapitän von dem Busche wird damit zum Wegweiser durch die trüben Fahrwasser menschlichen Daseins. Aus ihm sprechen viele Stimmen, Figuren und Geschichten, wie es auf der Verlags-Website heißt. Auf „Look at the Seascape“ folgen zwei weitere Bände, die vermutlich im Laufe der nächsten beiden Jahre erscheinen werden.

Stephan Zwerenz, Dresdner Neueste Nachrichten, 15. Juli 2020


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